Die Dame rechts neben mir war empört. „Wenn ich mit dem Auto nicht mehr in die Stadt fahren kann, dann gehe ich eben woanders hin.“ Dass es vielleicht eine bessere Bustaktung geben könnte in Zukunft, flotte Leezen-Kuriere, die den Einkauf nach Hause bringen, brachte sie nicht zum Nachdenken. Der Herr am anderen Ende des Tisches schloss sich an: „Ich sehe gar nicht ein, warum ich auf irgendetwas verzichten sollte.“ Natürlich braucht es kluge Konzepte für Mobilität, für Auto- und Fahrradverkehr, für Busse und (Zukunftsmusik?) S-Bahn im Münsterland, natürlich stehen wir vor größten Herausforderungen, potenziert durch pandemische krisenhafte Zeiten. In Münster liegen die großen Zukunftsthemen auf dem Tisch, alle, die Lust haben, können sich beteiligen und ihre Ideen einbringen zu unserem Leben in der Stadt, zur Zukunft von Wohnen, Innenstadt & Co, von Wissensquartieren und starker Wirtschaft und vor allem, wie werden alle Menschen mit ihren so unterschiedlichen Interessen mitgenommen. 

Während die Empörungs-Sätze von Ü-60-Jährigen über den Kaffeetisch flogen, dachte ich an die junge Studentin, die auf warmes Wasser verzichtet und kalt duscht. Nicht als Kneipp’sche Anwendung, sondern weil sie ganz persönlich überall Energie spart, wo es nur geht. Für diese Welt. Weil sie sich persönlich verantwortlich fühlt. 

Ich glaube nicht, dass die großen Themen, die wir in den nächsten Jahren bewältigen müssen, Generationen-Konflikte sind. Auch innerhalb jeder Generation sind die Interessen sehr vielfältig. Jedes einzelne Thema ist so komplex, dass soziale, wirtschaftliche, ökologische Fragen gleichermaßen aufgeworfen werden. Aber wie wir leben und gestalten, das ist eine Frage, die Generationen beeinflusst.

Von meiner 85-jährigen Mutter wollten wir vor ein paar Tagen beim Sonntagskaffee noch mal die Geschichte vom Kriegsende hören: Die alliierten britischen Soldaten machten wahrscheinlich große Augen, als sie Mutter und Kind plötzlich im Türrahmen sahen. Meine Oma mit der kleinen Marlies, einem Mädchen von damals sieben Jahren. Frühjahr 1945, die britischen Befreier hatten sich gerade ins Haus meiner Großeltern einquartiert, während meine sehr unerschrockene Oma die drei kleineren Kinder bei der Großtante in einem benachbarten Dorf untergebracht hatte. Mit der kleinen Marlies – meine Mutter war das älteste Kind – wollte sie partout nach dem Rechten sehen und traf auf die Soldaten.

Bis heute behauptet meine Mutter, dass sie als Kind im Krieg überhaupt keine Angst kannte. Aber dass sie als kleines Mädchen kilometerweite laufen musste, um zu „hamstern“, ein bisschen Milch für den kleinen Bruder zu bekommen, im Wald Bucheckern zu sammeln, auf dem Feld die Ähren aufzulesen. Partout wollte sie später in keiner Warteschlange stehen, so sehr wirkte das Anstehen mit den Lebensmittelmarken nach. 

Warum ist es so wichtig, dass wir unsere Geschichten erzählen? Die aktuellen, die alten Erzählungen. Weil wir die großen Themen über die Geschichten, über die Gefühle besser verstehen. Weil Vertrauen entsteht. Ohne Vertrauen funktioniert Demokratie nicht. Weil wir sehen, was aus Mut und Experimentierfreude wachsen kann.

Jedes Thema hat eine Fülle von Aspekten, über die wir als Gesellschaft sprechen müssen: Wohnen, Mobilität, Arbeit, Digitalisierung und Smart City, Nachhaltigkeit und Klima. Wissenschaft und eine innovative, zukunftsstarke Wirtschaft. In krisenhaften Zeiten ist der Wunsch nach einfachen Antworten groß. Die gibt es aber nicht. Gewiss ist die Ungewissheit. 

Mir fallen die Geschichten meiner Eltern aus ihrer Kindheit und Jugend ein, weil Erzählungen auch im politischen Diskurs in diesen krisenhaften Zeiten so wichtig sind. In vielen Zusammenhängen haben wir das Streiten ja verlernt. Damit meine ich nicht, die eigene Position und Meinung zu verteidigen. Sondern wirklich verstehen zu wollen: Warum denkt mein Gegenüber so? Was bewegt ihn wirklich? Kann ich zuhören? Ein Streiten, bei dem aufgeatmet wird, weil ich von meinem Gegenüber etwas erfahren, neue Erkenntnisse gewonnen habe. Weil ich trainiere, frei und kreativ zu sein, Vorurteile zu überwinden.

Ganz schön schwer in pandemischen Krisenzeiten, in der alle über jeden Moment von Leichtigkeit froh sind. Ganz schön schwer, wenn sich alle nach Gewissheiten, Eindeutigkeiten und Verlässlichkeiten sehnen und versuchen, den Alltag zu meistern oder um ihre Existenz kämpfen. Und zum Reden braucht man Zeit, man braucht die Nerven und Geduld. 

Was sind schon Gewissheiten, wenn das Leben weitgehend in der eigenen, weitgehend akademischen „Bubble“ stattfindet. Wer nicht gerade im sozialen oder pädagogischen Bereich oder in der Kultur arbeitet, bekommt die Geschichten nicht mit oder sieht morgens nicht, dass Kinder ohne Frühstück in die Kita oder in die Schule kommen. Als ich vor Jahren hörte, dass Kinder aus Stadtteilen noch niemals am Prinzipalmarkt oder Aasee waren, habe ich es das nicht für möglich gehalten. Dass es im großen Maße gelungen ist, Kräfte gegen die Kinderarmut zu mobilisieren, dass es heute Stadtteilkoordinatoren gibt, die wie Seismographen aufspüren, ob die Kinder und deren Familien Zugang zu den richtigen Angeboten und Hilfen bekommen. 

Die inzwischen berühmte Oodi-Bibliothek in Helsinki ist so ein Wohnzimmer der Stadt, eine „Hommage an die Gemeinschaft“. Jugendliche stehen am 3-D-Drucker, Kinder spielen, in jeder Ecke Sessel oder Arbeitsplätze, Bastel- und Elektronik-Labore, Co-Working-Spaces, alte Damen beim Stricken, Mädchen an den Nähmaschinen. Mein Mann, der einige Jahre in Finnland gelebt hat, erinnert sich daran, wie teuer Bücher dort waren und dass es im kleinsten Dorf eine große Selbstverständlichkeit war, Bücher auszuleihen und in der Bibliothek zu verweilen. Schöne Vorstellung für Münster: Statt eines Cafés im alten Stadthausturm oder an einem für die Jugend noch cooleren Ort: Die einen feilen an ihren Song-Texten, die anderen erklären Kindern, was Batterietechnologie oder Nanoanalytik ist, Handwerker stellen Werkzeug zur Verfügung und gewinnen junge Leute, eine Auszubildung zu beginnen. Viele Orte ohne Konsumzwang, zum Verweilen, Picknicken, Menschen beim Leben zuschauen: Sitzmöglichkeiten im wunderschönen Foyer in der tollen Architektur des LWL-Museums, auf der Terrasse vorm Theatercafé, am Aasee und überall in der Stadt. Damit jede und jeder sich willkommen fühlt.  

Auch wenn reden Zeit kostet und die Empfindlichkeit groß ist: Wir brauchen den Raum für den demokratischen Streit, für die Gefühle und müssen im Kleinen beginnen. Wir müssen so sehr Haltung zeigen und gegen jede Form von Antisemitismus, diffuser Systemkritik, die sich gegen die Demokratie wendet, aufstehen. Noch vor einem Jahr hätte sich kaum jemand vorstellen können, dass es Menschen mit großer Wissenschaftsskepsis gibt (schon gar nicht von abstrusen oder demokratiefeindlichen Argumenten der Impfgegner), während man selbst den mRNA-Impfstoff für einen revolutionären Durchbruch hält, auch bei der Bekämpfung von anderen Krankheiten. Demokratie war für meine Generation vielleicht zu selbstverständlich, umso mehr müssen wir jetzt für sie arbeiten und uns für die Werte einsetzen, wenn sie angegriffen werden.

Der Philosoph Josef Früchtl plädiert in seinem Buch dafür, dass Kunst und Kultur eine entscheidende Rolle zukommt, um Gefühle sinnvoll zu verwandeln und erfahrbar zu machen. Ohne Gefühle würden wir den Wert von Menschen und Dingen gar nicht wahrnehmen. Nur müssten Gefühle so artikuliert werden – wie in der Kunst -, dass ihnen eine politische Plausibilität gegeben wird. Oder wie das Stadtensemble die Demokratie feiert, zum Festival der Demokratie einlädt und Joseph Beuys zitiert „Kunst ist die letzte Möglichkeit, die Missstände und Widersprüche in der Gesellschaft zu heilen.“
Während den meisten der Kopf schwirrt von der pandemischen Krise mit ihrer Wucht – für die Gesundheit, für einzelne Existenzen, für die jungen Familien, Kinder, Jugendlichen müssen wir uns gerade jetzt Gedanken machen, wie wir in Zukunft leben wollen und wie wir uns das leisten können. Wir wünschen uns, in einem bunten Viertel zu leben, quer durch die Berufe, Generationen, Lebensstile – Kinderwagen möchte man genauso sehen wie Studierende, Junge und Alte, Singles und Paare – und wissen, wie hoch der Gentrifizierungsdruck ist, dass mehr als 30 Prozent des Einkommens für Wohnen bedeutet, dass das Geld an anderer Stelle für das Leben nicht mehr ausgegeben werden kann. Wie sind alle Bevölkerungsteile existenziell aufgestellt, wie können alle partizipieren? Es wird eine große gemeinsame Anstrengung sein, Nachhaltigkeit sozial und generationenübergreifend zu erreichen, darüber zu debattieren, was wir als Gesellschaft brauchen, die Nöte und Ängste zu hören, den Spaltungen entgegenzuwirken und doch gemeinsame Ziele zu sehen. Konflikte bergen auch innovatives, schöpferisches Potenzial. Konflikte auszutragen, darauf kommt es an.

Die großen Ziele können mit der Anstrengung aller in kleinen Schritten erreicht werden, indem wir unsere Fantasie beflügeln, um schöpferisch zu werden und aus vermeintlichem Verzicht mit Freude das Neue zu schaffen.

Was können wir von den Alten lernen, gibt es aus der Sicht der Jungen etwas, das wir nutzen können von dem, was eine andere Generation erreicht hat. Als Eltern weiß man ja, wie sehr man von den Kindern lernt. Von den Jungen können wir lernen, was es für sie heißt, die Stadt enkeltauglich zu machen. Auf unserem Weg der Veränderung ist jeder Einzelne von uns gefragt, seinen Beitrag zu leisten, herauszufinden aus der Selbstbezüglichkeit in dieser vermeintlich hoch-individualistischen Welt. „Ich halte die individualliberale Sicht für verfehlt“, so schreibt Christoph Möllers im Philosophiemagazin vom 09.09.21, „Tatsächlich können wir alleine gar nicht als Individuen existieren. Der Begriff des Individuums ergibt nur Sinn, wenn er sich auf eine Gemeinschaft bezieht.“

Bleiben wir also alle miteinander im Gespräch, mit Fragen, mit Interesse.  

In unserem eigenen kleinen Leben, im Kreis von Freund*innen, Bekannten, in unserem Viertel, in unserer Stadt haben wir die Chance, diesen Diskurs zu üben und dabei um das Gute zu ringen. Dabei fühlen wir uns energetisiert wie in einem tollen Konzert. Oder schauen uns an, wie die Künstler*innen die großen Gefühle auf die Bühne bringen oder in Kunstwerke übersetzen und dabei Gemeinschaft erfahren.

Tipps zum Weiterlesen und Hören

https://stadtensemble.de

Ich bin begeistert von diesem Podcast: 

Menschenherz und Meeresboden sind unergründlich. Die Kunstvermittlerin Inès von Patow und der angehende Rabbiner Levi Israel Ufferfilge besuchen jüdische Menschen und erkunden Orte jüdischen Lebens in Münster.

https://lwlkulturstiftung.blog/2021/09/03/menschenherz/

Antonio Damasio: Wie wir denken, wie wir fühlen. Die Ursprünge unseres Bewusstseins.

Josef Früchtl: Demokratie der Gefühle. Ein ästhetisches Plädoyer.

Christian Budnik: Vertrauen als politische Kategorie in: Nachdenken über Corona. Philosophische Essays über die Pandemie. (Hg: Geert Keil und Romy Jaster)

Frank-Walter Steinmeier (Hg.): Wegbereiter der deutschen Demokratie. 30 mutige Frauen und Männer 1789-1918


Schnellkochtopf. War das eigentlich der Thermomix der 1970-er? Beim Leerräumen unseres Elternhauses werden die Tiefen des Langzeitgedächtnisses und der Gefühle gleichermaßen aktiviert. Ich bin allein im Haus, um auszusortieren, schalte mein altes Radio an. Da ist die vertraute Stimme von Götz Alsmann am frühen Samstagnachmittag im WDR, ach, wie wohltuend. Meine Mutter ist jetzt pflegebedürftig, so dass sie in ihrem großen Haus nicht mehr alleine wohnen kann.

Es gab wohl kaum eine Woche in meinem Leben, in der ich meine Eltern nicht besucht hätte, das Haus war immer voller Leben – mit Freunden, Familie, Menschen aus der Jugendzeit, dann aus dem Studentenleben. Wenn mein Vater aufwachte, weil eins der Kinder mal wieder nach langer Nacht die Freunde mit nach Hause brachte, hat er erst mal Bratkartoffeln mit Spiegelei für alle gebraten. Die Pfanne hat sich mein Neffe wegen der leckeren Bratkartoffeln gewünscht. Mein Elternhaus war auch das Enkel-Paradies.

Obwohl ich keine „Steh-Rümmchen“ mag und das Aufgeräumte brauche, hänge ich an alten Dingen. Über Jahrzehnte habe ich einfach alles bei meinen Eltern gelassen oder in der großen Korbtruhe im (großen) Abstellraum unterm Dach verstaut, was überleben sollte.  Ich meine, dass gute Erinnerungen auch sichtbar sein dürfen zu Hause und nicht nur im Herzen – wenn sie mit guten Gefühlen verbunden sind. Jede und jeder geht anders damit um. Manchen macht es nichts aus, ein Fotoalbum wegzuwerfen, andere brauchen gar nichts außer ihren Erinnerungen.  „Damit habe ich gespielt?“ Mein Bruder staunt angesichts der bunten hölzernen Spielzeug-Lok aus den 60-ern. Sie bekommt einen neuen schönen Platz bei ihm.

Archäologie der Gegenwart

Meine Mutter wollte, dass wir vier Kinder mit unseren Familien und ihren Enkel sich aussuchen, was sie aus dem Haus gerne mitnehmen wollten. Die Wassily-Stühle vorm Kamin, das Teeservice von Rosenthal, das uralte Burgenland-Kaffeeservice von meinen Großeltern, das ganze Service mit Goldrand. Und was ist mit dem Zinnregal? Mir tat es gut, alles einmal in die Hand zu nehmen, zu wissen, was gut ist und funktioniert kommt in andere Hände; alles andere hatte auch seinen Dienst getan, wie meine Schwester mich überzeugte.

Die Chrismon-Chefredakteurin Ulrike Ott hat in ihrem sehr schönen Buch „Das Haus meiner Eltern hat viele Räume“ über den Abschied und das Sich-Trennen von Gegenständen geschrieben.  Ich komme mir gerade vor wie eine Archäologin der Gegenwart, mit jedem Gegenstand tut sich der Blick in unsere jüngste Geschichte auf: Kassetten, CD-Player, Latein- und Französisch-Bücher voll mit Peace-und-Love-Symbolen. Ich finde den Führerschein meiner Mutter, am 22. Februar 1973, nach der Geburt ihrer vier Kinder hat sie als 36-Jährige ihre Fahrprüfung gemacht. Im selben Jahr folgte aufgrund der Ölkrise der legendäre autofreie Sonntag.   Der halbe Schrank ist voll mit meinen Lebensjahrzehnten. Das Poesiebuch aus der Schule, mein erstes Kindergebetbuch aus dem Kloster Gerleve. Dahin fuhren wir manchmal sonntags zur Messe. Wie haben meine Eltern es eigentlich geschafft, nach einer arbeitsreichen Woche immer einen Sonntags-Ausflug mit uns zu machen? Wahrscheinlich waren sie mindestens das Spaziergang-Gequengel leid. Ich habe ein kleines Büchlein wiedergefunden, in das alle Ausflugsorte eingetragen sind: Märchenwälder, nahezu alle Zoos und Tierparks, Hermanns-Denkmal, Sommer-Rodelbahn. Das Ausleih-Heft der Bücherei, ich entdecke den Titel „Désirée“ von Annemarie Selinko, herrje.

Weiter in die 70-er, das Lederarmband mit den Namen der ganzen Clique war Pflicht; die kleinen Gläschen aus Amsterdam, die man in den Setzkasten stellte, sind noch da. Eine der blauen Bonbonièren aus meinem Jugendzimmer steht nun wirklich bei meiner 18-jährigen Nichte. Die breitschultrige rote Lederjacke aus den 80-ern, Odeon-Programme; Liebesbriefe, aber auch Namen, an die ich mich nicht mehr erinnern kann. Ok, das kann also weg.  Aber da: Die Handschrift von Volker Kriegel, nach seinem Konzert mit dem Mild Maniac Orchestra, ich war junge Zeitungsvolontärin, haben wir über die Musik geschrieben.

Und die Fotos von Annette Humpe, der Sängerin und Gründerin der West-Berliner Band Ideal, die Vorreiter der Neuen Deutschen Welle waren, das Interview mit dem Perkussionisten Batt Behrendt, den ich als Bandmitglied von Volker Kriegel kennengelernt hatte. Die Erinnerungen sind eine Zeitreise durch Jahrzehnte, gesellschaftlichen Wandel. Die Dinge machen den Zeitgeist sichtbar. Über die alte Stereo-Anlage hat sich der Elektro-Bastler in unserer Straße gefreut, meine Schwester und ihr Mann haben den großen Esstisch zu der Familie gebracht, die ihn nicht transportieren konnte, Geschirr und Gläser finden sich in den Studenten-Wohnungen wieder.  Tische werden wieder gedeckt mit den alten Hochzeits-Gläsern und dem Silberbesteck – nur Gegenstände, die aber auch das Leben und die Liebe des Elternhauses in sich tragen.

Jetzt beginnt eine neue Zeit. Bei aller Sehnsucht nach „Normalität“. Wie soll sie aussehen? Schaffen wir es, trotz der wirtschaftlichen Bedingungen an etwas Neues zu denken?

Die Wirtschaft ächzt, Existenzen brechen weg, die Kinderbetreuung fehlt, virtuelle Führung ist anstrengend, nur Video- und Telefonmeetings ersetzen das Persönliche im Alltag nicht. Der erste Impuls im März war vor allem: Was bedeutet dies für die junge Generation?

Mit einigen Jahrzehnten Lebenserfahrung empfinde ich mein Leben als großes Privileg: Mein journalistisches Volontariat konnte ich noch direkt nach dem Abi machen, ich war mit 20 schon begeisterte Zeitungsredakteurin. Studiert in den 80ern hat man meistens das, was einem Freude machte. Ich bin sehr dankbar, dass ich mich auch als alleinerziehende Mutter beruflich sehr erfolgreich entfalten konnte – mit neuen Perspektiven und Positionen mit großer Sinnerfüllung.

Ich dachte im März also vor allem an die Generation, die doch überwiegend behütet aufgewachsen ist, gleichzeitig kosmopolitisch und global lebt mit Studien und Ausbildungen, Freunden, Auslandssemestern – und nun plötzlich mit all den Erwartungen von Generation X,Y,Z mit Ungewissheiten konfrontiert ist. Abi und Examen sind verschoben, das wochenlange Lernen verlängert sich – und der Abiball findet im Zweifelsfall im Autokino statt. Welch ein Start in einen neuen Lebensabschnitt. Gerade noch gefragte intelligente wissensdurstige junge Menschen, die sich ihren Job aussuchen und hohe Forderungen stellen konnten. Und nun? Manche sind in Kurzarbeit. Andere arbeiten gerade doppelt soviel. Vorstellungsgespräche wurden abgesagt oder vertagt.

Viele Studentinnen und Studenten sind über Wochen wieder zu ihren Eltern gezogen, manche müssen ihr Zimmer oder ihre Wohnung aufgeben, weil sie oder die Eltern den Job verloren haben. Studi-Jobs sind überwiegend weggefallen (außer bei den Medizinstudent*innen).

Wie fühlt sich Ungewissheit in verschiedenen Lebensphasen an?

Wie fühlt es sich an, wenn man zum ersten Mal vor einer solchen Ungewissheit steht? Wie erlebt man Ungewissheiten in verschiedenen Alters- und Lebensphasen?

Da man Negatives meistens schnell vergisst und in einem friedvollen Europa aufgewachsen ist, versuche ich mich an Krisen zurückzuerinnern – aus welchen Fehlern und Gefühlen kann man lernen? Der legendärere autofreie Sonntag in der Ölkrise sorgte bei uns Kindern eher für Spaß. Gegen Cruise Missiles im Bonner Hofgarten und Atomkraft hatte man klare Gegner. Erst recht gegen die Irakkriege. Krisen im Geschäftsleben kennt man natürlich in einer über 30-jährigen Karriere – zuletzt die Finanzkrise, nicht vergleichbar mit dem Corona-Lockdown.

Tschernobyl 1986 zeigte die Verletzlichkeit, die radioaktive Wolke war wie das Virus eine unsichtbare Gefahr. Es lohnt sich der Blick auf das, was an Neuem und Gutem aus Krisen hervorgegangen ist. Aber was ist das schon im Vergleich zur Generation der Hochaltrigen, die Kriege und Währungsreform und Wiederaufbau erlebt haben. Oder im Vergleich zu den Auswirkungen von politischen Auseinandersetzungen oder Gewalt auf der Welt? Also, Vergleiche hinken.

Gerade habe ich das Glück, dass ich häufig mit einer jungen Frau aus Südafrika plaudern kann, weil sie mit ihrem Freund vor den Toren Münsters „gestrandet“ ist. Eigentlich wollte ihr Freund nur noch sein Examen ablegen und dann wollten sie gemeinsam nach Kapstadt gehen. Stattdessen nun: Familien-Corona-Zeit im Münsterland. Wann öffnen die Grenzen wieder? Mitten in dieser Situation erlebe ich den klugen und differenzierten Blick auf die Welt der 23-Jährigen, auch das Hadern damit, dass mit den Einschränkungen und Ausgangssperren weltweit so viele arme Menschen in größte Not kommen. Sie fragt mich, was für ein Kampf diese RAF in Deutschland eigentlich war. Diese ernste Krise hatte ich beinahe vergessen. Und noch einmal schien die Welt aus den Angeln: Mit 9/11 kehrte der Irrsinn der Irakkriege in Form von Terror zurück. Dann haben wir uns angesichts des islamistischen Terrors gefragt, ob dies die neue Form der Kriegsführung werde. Am Abend nach dem Anschlag auf das französische Satiremagazin Charlie Hebdo trafen wir Freundinnen und Freunde uns, um unseren Schock und unser Mitgefühl zu teilen, aber auch um uns darin zu bestärken, wie wichtig Freundschaft und Dankbarkeit sind – und trotz Stress und Arbeitsdichte das Leben zu feiern. Sich Nah-Sein, Zusammensein, Umarmungen verhindert das Virus – jedenfalls in diesen Formen menschlicher Nähe.

Neue Formen der Berührung

Ich wünsche mir, dass die junge Psychologie-Absolventin aus Südafrika ein freundliches, herzliches Deutschland erlebt. Doch noch ist die Frage, ob Distanz-Halten uns noch begleiten wird, bis ein Medikament wirkt, bis ein Impfstoff gefunden wurde? Die Kinder, die in den Kitas betreut werden konnten, hatten ja, wie man von Erzieherinnen hörte, schnellstens die Abstandsregeln gelernt. Aber schon jetzt ist klar, dass sie so nicht aufwachsen dürfen, sondern in den Kitas und Kindergärten ein selbstverständliches kindliches Leben und alles ureigene Kindliche haben müssen. Darüber sind sich alle einig.

Was macht es mit den Jugendlichen, wenn sie in einer Welt von Distanz-Halten gegen die menschlichen Impulse von Umarmungen und Berührungen heranwachsen? Ohne Tanzen und Clubszene und menschliche Nähe, die sich nicht mehr impulsiv zeigen kann? Aids, HIV bedeutet eine Gefahr im Intimen. Der Schutz vor Sars-CoV-2 krempelt menschliche intuitive Verhaltensweisen um, jedenfalls in unserem Kulturkreis.

Bereit für eine neue Zeit!?

Auch wenn das Virus besiegt werden kann und diese Maßnahmen nicht mehr erforderlich sind – wann auch immer -, bleibt die Frage, die das Philosophie Magazin gerade titelte: Sind wir bereit für eine neue Zeit? Die Klimakrise ist nicht verschwunden, im Gegenteil muss sich für den Gesundheitsschutz die Frage nach dem Umweltschutz stellen.

Social Distancing für die Umwelt – das heißt im wahrsten Sinne des Wortes „räumlichen Abstand“ halten dort, wo der Mensch zerstört: Durch Eindringen in Lebensräume, in die der Mensch nicht gehört, durch ungebremsten Fleischkonsum und Massentierhaltung, CO2-Ausstoß, Zerstörung von Wäldern und Flächen, den Verbrauch unserer Ressourcen.

Abstand halten gegen das Corona-Virus ist aktiver Gesundheitsschutz. Klimaschutz ist ebenso aktiver Gesundheitsschutz.  

Was sage ich also den heute Zwanzigjährigen angesichts der Klimakrise? Dass in unserer Studenten-WG schon das erste Biobrot Münsters auf den Tisch kam (es war ehrlich gesagt mehr wie ein Stein), dass wir viel erreicht haben für saubere Flüsse, gesunde Wälder, Bio-Lebensmittel, neue Energien, fairen Handel, gutes Trinkwasser. Dass ich begeistert bin von Globalisierung und Internationalisierung, aber nicht ohne Gerechtigkeit. Dass ich, so gut es ging, bewusst und nachhaltig eingekauft und gelebt habe. Fliegen ist natürlich ein Problem. Gleichzeitig ist es das moderne Fortbewegungsmittel, um Menschen und Kulturen zu entdecken und den Horizont zu erweitern, wenn man nicht durch die Welt trampen kann (Wie gerade im schönen Dokumentarfilm „Weit“ im Autokino gesehen).

Die Chance von Nachhaltigkeit und Verzicht

Nachhaltigkeit ist ein komplexes Thema, jeder Einzelne muss dazu beitragen, jede Stadt und jede Region. Gehandelt werden muss auf internationaler Ebene. Doch der Schnellkurs, den wir in Virologie und Modellberechnungen hatten, ist auf Klima und Umwelt übertragbar. Wirtschaft und Gesundheit dürfen ebenso wenig gegeneinander ausgespielt werden wie Wirtschaft und Nachhaltigkeit, sie gehören in ihrer Komplexität zusammen.

Die Anstrengungen für Klima, Umwelt und Nachhaltigkeit bedeuten den Schutz von Menschen, der nächsten Generationen, der Lebewesen auf dieser Welt. Wir haben gerade erst einen Vorgeschmack davon bekommen, was Verzicht heißt. Ich spreche nicht über den Verzicht, den die Künstlerinnen und Künstler gerade erdulden müssen, ich meine nicht die Existenzangst und die wirtschaftlichen Sorgen.

Ich meine den Verzicht, für den wir uns entscheiden müssen.

Die Aaseekugeln strahlten hell an diesem Sonntag im April. So hatte es sich der Künstler Claes Oldenburg wohl vorgestellt. Das musste sofort festgehalten werden. Schade, keine 24 Stunden später waren sie auch schon wieder beschmiert. Zwei Kilometer entfernt hat Donald Judd, einer der Hauptvertreter des Minimalismus, für die erste Skulpturausstellung 1977 in Münster zwei konzentrische Ringe aus Beton am Aaseeufer geschaffen. Die Skulptur ist auf diese Lage am Aasee ausgerichtet – im Innern ist der Betonring horizontal, der äußere Ring folgt dem schrägen Abhang. Dieses Kunstwerk ist eigentlich gar nicht mehr zu erkennen. Provozieren die Flächen dieser Kunstwerke so sehr oder kennt die Selbstdarstellung keine Grenzen?

Was soll das eigentlich: Im Wienburgpark markieren Besucher ihr Revier und hinterlassen an der Stelle, wo mal Abfalleimer, jetzt aber nur noch die leeren Metallaufhängungen sind, ihren Müll. Abfälle und rote Hundek…beutel leuchten dort um die Wette. Einer fühlte sich wohl ganz spitzbübisch und platzierte den gefüllten Beutel oben auf die metallene Aufhängung. Maßt man sich hier an, eigene Regeln der Abfallentsorgung aufzustellen? Dabei dürfte die tolle Werbung der Abfallwirtschaftsbetriebe Münster doch wirklich jeden erreichen – spätestens über die Litfaßsäulen.  

Für die New Yorker Künstlerin Nicole Eisenman waren Veränderung und Verfall Teil ihrer Brunnenskulptur „Sketch for a Fountain“ 2017 während der Skulptur Projekte an der Promenade. Selbst als einer der Figuren der Kopf entfernt wurde. Die Andersartigkeit der Brunnenfiguren war diesen Unbekannten die pure Provokation.

Doch trotz dieser anekdotischen Empirie beweisen zahlreiche Experimente, Studien und der Blick in die Evolution, wie altruistisch der Mensch ist und ein durch und durch soziales Wesen. Im Gegenteil sei es sogar gefährlich, den Menschen für egoistisch zu halten. Dies belegt der junge niederländische Historiker Rutger Bregman mit seinem Buch „Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit“. Damit bediene man nur die Self-Fulfilling Prophecy und bekomme, was man erwartet.

In der Corona-Krise erleben wir in ganz großem Maße genau das: Gemeinsinn, Einsicht, Rücksicht, Vertrauen in Politiker, Interesse an den Wissenschaften. Ich bin sehr überzeugt von der Notwendigkeit der Einschränkungen und eher skeptisch hinsichtlich mancher Lockerungen. Der Diskurs darüber hat aber viel zu spät eingesetzt, denn eine Diskussion, zu welchem Ergebnis sie auch führt, muss einer Gesellschaft zugemutet werden. Demokratie ist Diskurs.

Wenn’s im Kleinen also unverständliches Verhalten ist, reicht auch schon mal das inneres Kopfschütteln. Um die Energie in die großen Würfe zu stecken. Denn es bleibt weiter anstrengend, die Werte zu verteidigen im Alltag, sich nicht provozieren zu lassen, erst recht nicht, wenn es um Verschwörungstheorien und Populisten geht.

Aber es lohnt sich jeden Tag aufs Neue.

Lesetipp

Gebrauchsanweisung für Populisten von Heribert Prantl

Richard Sennett: Zusammenarbeit. Der Soziologe und Historiker analysiert beeindruckend unsere Arbeits- und Lebenswelten.

Filmtipp

Der US-amerikanische Science-Fiction-Film „Arrival” von Denis Villeneuve.

Eine Linguistin, gespielt von Amy Adams, entschlüsselt das Geschenk der Aliens an die Menschheit, weil sie kommuniziert statt zu spalten: Das Geschenk ist eine neue Sprache, die nichtlineare Wahrnehmung von Zeit, eine Einladung zu kommunizieren.

Parasite – der Regisseur Bong Joon-ho hält mit dieser brillanten Satire aus dem Jahr 2019 nicht nur der südkoreanischen Gesellschaft den Spiegel vor. 

Der Zentralfriedhof gehörte immer zu meinen Lieblingsorten. Am Tag 4 der „Kontaktsperre“ legt sich auf die tiefe sichere Ruhe, die der Ort für mich immer ausstrahlte, eine unbekannte unruhige Stille. Hunderte von gelben und lila Stiefmütterchen warten auf die Friedhofsgärtner, der Schmetterling entfaltet sich in der Sonne. Mitten in der Pandemie die Schönheit des Frühlings ohne die unbeschwerte Vorfreude.

Am Wochenende vor der offiziellen Kontaktsperre, als wir zum Schutz der Gesellschaft die Distanz schon gut trainiert hatten, hieß es am Blumenstand ganz unverblümt: „Die Alten sind immer schon gestorben, dann ist es jetzt auch wieder so.“ Meine Sprachlosigkeit war eine innere laute Stille. Wie jetzt die richtigen Worte finden, wenn es um so zentrale ethische Fragen geht: Wie gelingt es, gleichzeitig Menschen zu schützen, die ein höheres Risiko haben zu sterben, das Gesundheitssystem vorzubereiten und dabei gesellschaftlich stabil zu bleiben? Ich laufe doch in die Argumentationsfalle und verweise auf die jungen Menschen: „Wissen Sie auch, dass in Deutschland jeder Fünfte chronisch krank ist oder eine Erkrankung hat? Auch Kinder und Jugendliche haben Rheuma, Diabetes, Asthma, Autoimmunerkrankungen, kennen Sie denn keinen Krebskranken oder behinderten Menschen?“

Vor der Lambertikirche sitzt kein Bettler, ich trete ein und finde mich plötzlich in einer komplett menschenleeren Kirche. Es brennen nur wenige Kerzen vor der Statue des lächelnden Antonius und vor dem Marienbild. An diesem normalerweisen wohltuend leisen Ort rumoren in die Leere hinein Gedanken, Bilder, Fragen. Schließlich kommen zwei Tontechniker aus der Sakristei, wohl um die Kirche virtuell vorzubereiten.

Gut drei Wochen liegen zurück, als Hunderte im Rathausfestsaal während der VHS-Veranstaltung über „Sterben in Würde“ und die Palliativmedizin diskutierten. Jetzt transportieren Lastwagen in Italien die Leichen. Sterben ohne einen liebenden Angehörigen, ohne gemeinsamen Abschied? Werden wir die Würde bewahren können?

An der Litfaßsäule lächelt der Gauloises-Mann noch immer über dem Slogan „Und die Welt steht still.“ In unserer gemeinsamen Lernkurve zur Pandemie musste der erhabene Moment des Selbstvergessens in ein angespanntes Innehalten umgedeutet werden. Aus der Isolation heraus ist unsere Stadtgesellschaft schnell aktiv geworden – Hilfsangebote überall, soziale Nähe in der Nachbarschaft, für die Krankenhäuser, für sozial Schwächere, im Engagement für die Freischaffenden und Künstler.
Es ist ja kaum zwei Wochen her, dass wir auf dem Weg zu Tuğsal Moğuls Premiere „Deutsche Ärzte Grenzenlos“ im Theater waren. Aufgrund der Corona-Infektionen im Theater wurde glücklicherweise schnell entschieden, die Vorstellungen abzusagen. Statt des Blicks in den Mediziner-Alltag auf der Bühne, führt jetzt der Corona-News-Ticker in das Gesundheits- und Krankenhaussystem. Als würden wir die unmenschlichen Folgen der Ökonomisierung des Gesundheitswesens nicht schon seit Jahren beklagen. Glücklicherweise strömt den Pflegerinnen und Pflegern, den Ärzten, Physiotherapeuten und dem Personal in den Pflegeheimen eine Welle der Dankbarkeit und Wertschätzung entgegen.
Jäh aus der hohen Schlagzahl des gehetzten Alltags gerissen, ist es erstaunlich, wie gelassen sich fast alle in den räumlichen Rückzug begeben haben. Abends geht ringsum in den Wohnungen früh das Licht aus. Die erschöpfte Gesellschaft kommt zum Atmen, auch wenn es unter der grauen Glocke der Ungewissheit stattfindet. Merkwürdig, wie Zeit sich ausdehnt und gleichzeitig fliegt.
Welche Freude, wenn es in manchen Gesprächen unter Freundinnen und Freunden so gut gelingt, von der Zukunft her zu denken: Was wollen wir als Gesellschaft, wofür stehen wir, wie viel bedeuten uns die Schwachen, die Armen, die am Rande? Wenn wir uns jetzt die Welt im Jahr 2022 anschauen, wie blicken wir aus dieser Vision auf das Heute? Gute Krisenkommunikation entwickelt Worst-Case-Szenarien, damit Handeln an die Stelle von Angst tritt.
Die Chancen der Krise zu beleuchten lässt durch die eigenen vier Wände die Gemeinschaft spüren. Daneben lauert die Ungewissheit: Was kommt auf uns zu – im besten, was im schlechtesten Fall? Ist dies die Ruhe vor dem Sturm? Können wir die tiefe wirtschaftliche Rezession vermeiden? Wie geht es den Familien gerade, zu denen die Jugendämter gerade nicht gehen; wie geht es den Kindern, die in den Kitas und Schulen mit Frühstück und frischer Kleidung, mit Zuwendung und Struktur aufgefangen wurden? Wie geht es weiter mit flüchtenden Menschen?
Wie können wir mit allen gemeinsam die Wirtschaftskraft erhalten – auch um uns ein gutes Gesundheitssystem leisten zu können.
Ich versuche mir zu vergegenwärtigen, wie sich die Zeit nach Tschernobyl 1986 anfühlte. Ich frage mich das, weil ich soviel an die jungen Menschen denken muss, die jetzt gerade ins Leben starten. Einladungen zu ihren Vorstellungsgesprächen werden gecancelt, Kurzarbeit wird zum kleineren Übel, das Abi ist verschoben. Im Jahr 1986 hat es am Honig, wie ich ihn gerade aus den Baumbergen mitgebracht habe, keine Freude gegeben. Halbwertzeit.
Als der Reaktor in Tschernobyl explodierte, war ich kurz vor meinem 26. Geburtstag. Ich war politisch, habe demonstriert, war engagiert und hoffte immer, das Beste für die Gesellschaft zu tun. Bis mich im letzten Jahr meine jungen Neffen fragten, als ich ihnen zurief, sich noch stärker zu engagieren: Aber du bist doch die Generation, die uns diese Gesellschaft hinterlassen hat. Und nun, mitten in der Krise, welche Konflikte gilt es zwischen den Generationen zu lösen?
Werden wir jetzt als Gesellschaft, die 60 Jahre lang in Frieden und großem Wohlstand gelebt hat, diese Krise meistern, überwinden und dann die Welt zu einem noch besseren Ort machen? Nicht nur in Münster, in Deutschland, auch in Afrika und im Nahen Osten? Werde ich weiter am Aasee müde belächelt von den jugendlichen Paaren, wenn ich versuche, Abstand zu halten? Oder wird das Training die Tugend der Höflichkeit, egal welchen Alters, neu beleben und uns allen Druck machen, unsere Werte zu definieren und zu diesen Werten zu stehen. Der Blick auf die Welt ist in diesen Zeiten ist immer ambivalent, so wie der sonnige Frühling gleichzeitig die Ruhe vor dem Sturm des Virus sein kann. Hoffen wir gemeinsam, dass die Pandemie nicht so zerstörerisch wirkt auf unserer Welt, so dass wir eine gute Zukunft gemeinsam und in Freiheit gestalten können.

Lesetipp

Selbstbetrachtungen von Marc Aurel – für Nietzsche waren die Lebensweisheiten des Stoikers ein Stärkungsmittel. 
Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen. Von Harald Welzer