Jetzt beginnt eine neue Zeit. Bei aller Sehnsucht nach „Normalität“. Wie soll sie aussehen? Schaffen wir es, trotz der wirtschaftlichen Bedingungen an etwas Neues zu denken?
Die Wirtschaft ächzt, Existenzen brechen weg, die Kinderbetreuung fehlt, virtuelle Führung ist anstrengend, nur Video- und Telefonmeetings ersetzen das Persönliche im Alltag nicht. Der erste Impuls im März war vor allem: Was bedeutet dies für die junge Generation?
Mit einigen Jahrzehnten Lebenserfahrung empfinde ich mein Leben als großes Privileg: Mein journalistisches Volontariat konnte ich noch direkt nach dem Abi machen, ich war mit 20 schon begeisterte Zeitungsredakteurin. Studiert in den 80ern hat man meistens das, was einem Freude machte. Ich bin sehr dankbar, dass ich mich auch als alleinerziehende Mutter beruflich sehr erfolgreich entfalten konnte – mit neuen Perspektiven und Positionen mit großer Sinnerfüllung.
Ich dachte im März also vor allem an die Generation, die doch überwiegend behütet aufgewachsen ist, gleichzeitig kosmopolitisch und global lebt mit Studien und Ausbildungen, Freunden, Auslandssemestern – und nun plötzlich mit all den Erwartungen von Generation X,Y,Z mit Ungewissheiten konfrontiert ist. Abi und Examen sind verschoben, das wochenlange Lernen verlängert sich – und der Abiball findet im Zweifelsfall im Autokino statt. Welch ein Start in einen neuen Lebensabschnitt. Gerade noch gefragte intelligente wissensdurstige junge Menschen, die sich ihren Job aussuchen und hohe Forderungen stellen konnten. Und nun? Manche sind in Kurzarbeit. Andere arbeiten gerade doppelt soviel. Vorstellungsgespräche wurden abgesagt oder vertagt.
Viele Studentinnen und Studenten sind über Wochen wieder zu ihren Eltern gezogen, manche müssen ihr Zimmer oder ihre Wohnung aufgeben, weil sie oder die Eltern den Job verloren haben. Studi-Jobs sind überwiegend weggefallen (außer bei den Medizinstudent*innen).
Wie fühlt sich Ungewissheit in verschiedenen Lebensphasen an?
Wie fühlt es sich an, wenn man zum ersten Mal vor einer solchen Ungewissheit steht? Wie erlebt man Ungewissheiten in verschiedenen Alters- und Lebensphasen?
Da man Negatives meistens schnell vergisst und in einem friedvollen Europa aufgewachsen ist, versuche ich mich an Krisen zurückzuerinnern – aus welchen Fehlern und Gefühlen kann man lernen? Der legendärere autofreie Sonntag in der Ölkrise sorgte bei uns Kindern eher für Spaß. Gegen Cruise Missiles im Bonner Hofgarten und Atomkraft hatte man klare Gegner. Erst recht gegen die Irakkriege. Krisen im Geschäftsleben kennt man natürlich in einer über 30-jährigen Karriere – zuletzt die Finanzkrise, nicht vergleichbar mit dem Corona-Lockdown.
Tschernobyl 1986 zeigte die Verletzlichkeit, die radioaktive Wolke war wie das Virus eine unsichtbare Gefahr. Es lohnt sich der Blick auf das, was an Neuem und Gutem aus Krisen hervorgegangen ist. Aber was ist das schon im Vergleich zur Generation der Hochaltrigen, die Kriege und Währungsreform und Wiederaufbau erlebt haben. Oder im Vergleich zu den Auswirkungen von politischen Auseinandersetzungen oder Gewalt auf der Welt? Also, Vergleiche hinken.
Gerade habe ich das Glück, dass ich häufig mit einer jungen Frau aus Südafrika plaudern kann, weil sie mit ihrem Freund vor den Toren Münsters „gestrandet“ ist. Eigentlich wollte ihr Freund nur noch sein Examen ablegen und dann wollten sie gemeinsam nach Kapstadt gehen. Stattdessen nun: Familien-Corona-Zeit im Münsterland. Wann öffnen die Grenzen wieder? Mitten in dieser Situation erlebe ich den klugen und differenzierten Blick auf die Welt der 23-Jährigen, auch das Hadern damit, dass mit den Einschränkungen und Ausgangssperren weltweit so viele arme Menschen in größte Not kommen. Sie fragt mich, was für ein Kampf diese RAF in Deutschland eigentlich war. Diese ernste Krise hatte ich beinahe vergessen. Und noch einmal schien die Welt aus den Angeln: Mit 9/11 kehrte der Irrsinn der Irakkriege in Form von Terror zurück. Dann haben wir uns angesichts des islamistischen Terrors gefragt, ob dies die neue Form der Kriegsführung werde. Am Abend nach dem Anschlag auf das französische Satiremagazin Charlie Hebdo trafen wir Freundinnen und Freunde uns, um unseren Schock und unser Mitgefühl zu teilen, aber auch um uns darin zu bestärken, wie wichtig Freundschaft und Dankbarkeit sind – und trotz Stress und Arbeitsdichte das Leben zu feiern. Sich Nah-Sein, Zusammensein, Umarmungen verhindert das Virus – jedenfalls in diesen Formen menschlicher Nähe.
Neue Formen der Berührung
Ich wünsche mir, dass die junge Psychologie-Absolventin aus Südafrika ein freundliches, herzliches Deutschland erlebt. Doch noch ist die Frage, ob Distanz-Halten uns noch begleiten wird, bis ein Medikament wirkt, bis ein Impfstoff gefunden wurde? Die Kinder, die in den Kitas betreut werden konnten, hatten ja, wie man von Erzieherinnen hörte, schnellstens die Abstandsregeln gelernt. Aber schon jetzt ist klar, dass sie so nicht aufwachsen dürfen, sondern in den Kitas und Kindergärten ein selbstverständliches kindliches Leben und alles ureigene Kindliche haben müssen. Darüber sind sich alle einig.
Was macht es mit den Jugendlichen, wenn sie in einer Welt von Distanz-Halten gegen die menschlichen Impulse von Umarmungen und Berührungen heranwachsen? Ohne Tanzen und Clubszene und menschliche Nähe, die sich nicht mehr impulsiv zeigen kann? Aids, HIV bedeutet eine Gefahr im Intimen. Der Schutz vor Sars-CoV-2 krempelt menschliche intuitive Verhaltensweisen um, jedenfalls in unserem Kulturkreis.
Bereit für eine neue Zeit!?
Auch wenn das Virus besiegt werden kann und diese Maßnahmen nicht mehr erforderlich sind – wann auch immer -, bleibt die Frage, die das Philosophie Magazin gerade titelte: Sind wir bereit für eine neue Zeit? Die Klimakrise ist nicht verschwunden, im Gegenteil muss sich für den Gesundheitsschutz die Frage nach dem Umweltschutz stellen.
Social Distancing für die Umwelt – das heißt im wahrsten Sinne des Wortes „räumlichen Abstand“ halten dort, wo der Mensch zerstört: Durch Eindringen in Lebensräume, in die der Mensch nicht gehört, durch ungebremsten Fleischkonsum und Massentierhaltung, CO2-Ausstoß, Zerstörung von Wäldern und Flächen, den Verbrauch unserer Ressourcen.
Abstand halten gegen das Corona-Virus ist aktiver Gesundheitsschutz. Klimaschutz ist ebenso aktiver Gesundheitsschutz.
Was sage ich also den heute Zwanzigjährigen angesichts der Klimakrise? Dass in unserer Studenten-WG schon das erste Biobrot Münsters auf den Tisch kam (es war ehrlich gesagt mehr wie ein Stein), dass wir viel erreicht haben für saubere Flüsse, gesunde Wälder, Bio-Lebensmittel, neue Energien, fairen Handel, gutes Trinkwasser. Dass ich begeistert bin von Globalisierung und Internationalisierung, aber nicht ohne Gerechtigkeit. Dass ich, so gut es ging, bewusst und nachhaltig eingekauft und gelebt habe. Fliegen ist natürlich ein Problem. Gleichzeitig ist es das moderne Fortbewegungsmittel, um Menschen und Kulturen zu entdecken und den Horizont zu erweitern, wenn man nicht durch die Welt trampen kann (Wie gerade im schönen Dokumentarfilm „Weit“ im Autokino gesehen).
Die Chance von Nachhaltigkeit und Verzicht
Nachhaltigkeit ist ein komplexes Thema, jeder Einzelne muss dazu beitragen, jede Stadt und jede Region. Gehandelt werden muss auf internationaler Ebene. Doch der Schnellkurs, den wir in Virologie und Modellberechnungen hatten, ist auf Klima und Umwelt übertragbar. Wirtschaft und Gesundheit dürfen ebenso wenig gegeneinander ausgespielt werden wie Wirtschaft und Nachhaltigkeit, sie gehören in ihrer Komplexität zusammen.
Die Anstrengungen für Klima, Umwelt und Nachhaltigkeit bedeuten den Schutz von Menschen, der nächsten Generationen, der Lebewesen auf dieser Welt. Wir haben gerade erst einen Vorgeschmack davon bekommen, was Verzicht heißt. Ich spreche nicht über den Verzicht, den die Künstlerinnen und Künstler gerade erdulden müssen, ich meine nicht die Existenzangst und die wirtschaftlichen Sorgen.
Ich meine den Verzicht, für den wir uns entscheiden müssen.