Ich wollte wissen, wie es Münsters Türmerin und Künstlerin Martje Saljé in der Türmerstube hoch oben im Lambertikirchturm geht.

Die Türmerstube ist ein sehr besonderer Arbeitsplatz: Allein und doch im Kontakt zu den Menschen unten in der Stadt. Fühlst du die menschenleere Stadt dort in luftiger Höhe?

Es ist immer ein besonderer Ort, aber jetzt im Moment der globalen Ansteckungsgefahr bin ich mir noch mehr bewusst, wie speziell das alles ist: Ich blicke über die Stadt und es so ruhig, so leer, so friedlich – aber es ist natürlich eine trügerische Idylle.

Wie empfindest du die Aufgabe gerade als Teil einer jahrhundertelangen Tradition, was bedeutet es für dich, in dieser Zeit die Türmerin der Stadt zu sein?

Einen Teil meiner Arbeit als Türmerin verstehe ich auch als historische Recherche über die Welt, die Situation meiner Vorgänger auf dem St. Lambertiturm. Die älteste bekannte Schrift nennt Türmer im Zusammenhang mit der Brandkatastrophe im Jahre 1383. Ein Jahr zuvor wurde Münster von der Pest heimgesucht und viele Menschen verloren ihr Leben. Diese Pesterfahrungen prägten die damalige Gesellschaft (nicht nur in Münster) und sicherlich auch die Türmer auf der Stadt- und Marktkirche, die alle auch Familien und Freunde hatten. An diese Zeit denke ich jetzt gerade besonders. Auch an andere Krisenzeiten, die Münster schon überstanden hat: Die total eskalierte Täuferzeit, den Ersten Weltkrieg, die Novemberrevolution, die Nationalsozialisten und den Zweiten Weltkrieg… Wie auch immer die jetzige Zeit des neuen Coronavirus in der Zukunft beschrieben werden wird, vielleicht gibt es ja hier oder dort dann eine kleine Fußnote, dass die Türmertradition auch jetzt weiter fortgeführt wird.

Normalerweise schaust du in die Himmelsrichtungen – sind dort „Feinde“, steigt Rauch auf? Jetzt ist der Feind ein unsichtbares Virus. Auf welche Weise bewegt dich die Krise?

Ich selbst habe es ja wirklich gut, mein Arbeitsplatz ist viren- und gefahrenfrei, aber gleichzeitig geht es vielen anderen äußerst schlecht, sie verlieren ihre Anstellung, sie sind krank, sie sterben… das alles schnürt mir mitten im Gefühl der fast romantischen Ruhe auf dem Turm mitten in der Großstadt Münster die Kehle zu und ich möchte weinen.

Das Tuten des Horns in die drei Himmelsrichtungen steht für Glaube, Liebe, Hoffnung. Hat dies in diesen Zeiten eine besondere Bedeutung?

Ich bekomme viele schöne Rückmeldungen auf meine Blogartikel und oft heißt es: Das Friedenssignal sei für Anwohner*innen, die mir lauschen und meine Berichte lesen, ein Symbol für die typische münsterische Lebenseinstellung, dass hier Traditionen und Moderne in bester Synergie miteinander funktionieren, und dass es ihnen Hoffnung gebe in diesen widrigen Zeiten. Ich bin sicher, das verlässliche weltliche Hornsignal mit den verlässlichen christlichen Werten Glaube, Liebe, Hoffnung ist besonders in diesen Zeiten ein ganz starkes Symbol!

Wie hat sich dein Leben als Künstlerin verändert, was bedeuten die Absagen für dich, der Austausch mit dem Publikum?

Ich habe insbesondere in diesem Jahr 2020 neben der halben Stelle als Türmerin der Stadt Münster vollständig auf die Musik gesetzt – sonst hatte ich um den Lebensunterhalt zu sichern immer eine oder mehrere angemeldete Nebentätigkeiten (Bürojobs, Aushilfsjobs, Minijobs). Jetzt habe ich aktuell mehrere sehr gut angelaufene neue Musikprojekte – und bevor es richtig losgehen kann, werden alle geplanten Auftritte abgesagt. Schon aus rein finanziellen Gesichtspunkten wird es jetzt ziemlich schwierig, den relativ teuren Lebensstandard in Münster aufrechtzuerhalten. Und die ideellen Werte wie Lebensfreude durch Endorphine auf der Bühne und Glücksgefühle durch das Glücklichmachen des Publikums fallen jetzt auch weg, das müssen wir Künstler*innen jetzt irgendwie anders versuchen aufzufangen.

Was ist für dich der Unterschied zwischen den Veranstaltungen im digitalen Raum zum persönlichen, physischen Auftritt? 

Ich persönlich lehne reine digitale Auftritte für mich und meine Kunst, Musik und Lesungen ab. Ich brauche physisch anwesende Menschen, spürbaren Spannungsaustausch, direktes Feedback, auf das ich reagieren kann.

Aber ich habe mir in den letzten Tagen ein paar interessante Internet-Wohnzimmerkonzerte und Livestreaming-Lesungen von tollen Kolleg*innen angeschaut und genossen. Respekt vor jeder und jedem, die und der den digitalen Raum gut für sich nutzen kann!

Womit beschäftigst du dich in dieser Zeit ohne Auftritte, gibt es dennoch Raum für Kreativität?

Ich schreibe Songs und Gedichte, halte meine Flossen auf den diversen Instrumenten fit und habe sogar wieder angefangen, mehr Klavier zu spielen – Notenliteratur, die ich zuletzt als Kind angeschaut hatte. Mit meinem Freund Freddy Fretless habe ich letztes Jahr eine CD aufgenommen, diese Songs gehen wir jetzt noch einmal durch, um bereit zu sein, sobald es wieder Auftrittsgelegenheiten gibt. (Die CD mit Türmer-, Münsterliedern und einem Chanson gemeinsam mit der tollen Sängerin und Schauspielerin Christiane Hagedorn kann übrigens direkt bei mir per Mail an martjesalje@icloud.com bestellt werden, das nächste Weihnachten kommt bestimmt, wo man ein solches Geschenk brauchen könnte!) Auch die anderen neuen Projekte ruhen derzeit, aber wir schreiben weiter am Programm und tauschen uns per Mail und Messenger aus – Surftipp: De Plattköppe, Songs up Platt, www.plattkoeppe.de). An meinem Türmer-Buch schreibe ich auch gelegentlich weiter, darin trage ich alles zusammen, was ich über meine Vorgänger auf St. Lamberti finden konnte, kleine und große Informationen über die interessanten Persönlichkeiten der Türmer von Münster. Das Buch wird aber noch etwas Zeit brauchen, da ich ganz genau und besonders schön schreiben möchte, es ist ein recht ehrgeiziges Langzeit-Projekt. 

Ist die mittelalterliche Zahlenmagie gerade ein Thema für dich?

Immer! Morgens freue ich mich auf die abendliche Turmzeit, und die Mystik der Zahlen beginnt mit dem Aufschließen der Turmtür: Jede Stufe hinauf wird gezählt. Meditation pur. Oben erhält jedes Signal zur vollen und halben Stunde seine eigene Bedeutung – die Hohe Kunst des Tutens; die 3 ist Bestandteil jedes vollen Friedenssignals, Glaube, Liebe Hoffnung UND: Vater, Sohn, Heiliger Geist… das ist ungemein tröstend. Tuten tut gut!

Foto: Münster Marketing/ Claudia Große-Perdekamp

Turm-Blog: www.tuermerinvonmuenster.de 

Münster-Musik: www.martjesalje.blog